Der algerische Bürgerkrieg ist den meisten hierzulande nahezu unbekannt. In ihrer Maturarbeit arbeitet die algerischstämmige Reyene Daadi dieses Kapitel in der Geschichte ihrer Familie und des algerischen Volkes auf. Entstanden sind dabei berührende Erzählungen über Leid und Hoffnung früher und heute.

 

 

 

 

 

Ein Wandbild in Algerien spielt auf die Verunsicherung in der Bevölkerung an. (Bild: Reyene Daadi)

 

von Reyene Daadi, Vollzeit-KME, Juni 2020

Es fängt alles am 17. Februar 1993 an. Zwei Autos der Klasse 505 halten vor der Strasse Mohamed Naili genau vor dem Gebäude Nr.3-5 in Sidi M’hamed an. «Du weißt schon, dort, wo deine Großmutter mütterlicherseits lebte. Allah yerhamha (Segen sei mit ihr)». Es ist drei Uhr morgens. Acht Männer, bewaffnet mit Kalaschnikows und Beretta, steigen aus den Autos. Mit ihren blauen Uniformen und Kapuzen, unter welchen sie ihre Gesichter verstecken, begeben sie sich in den sechsten Stock. Sie läuten zuerst an der Haustür, dann schlagen sie mit den Fäusten und treten mit den Füssen gegen die Tür. Hoffentlich bekommen die Nachbarn nichts mit, ist Seddiks erster Gedanke. Er will seine Schwiegereltern vor den Nachbarn nicht blossstellen. Er betet zu Gott. Bitte, lieber Gott, lass sie weglaufen. Das Gebrülle, Treten und Schlagen gegen die Tür war wahrscheinlich zu laut, denn Gott hat an diesem Tag seine Gebete nicht erhört. Als die Türe von seiner Schwägerin Meriem geöffnet wird, stürmen acht Männer in die Wohnung. «Wo ist Seddik Daadi?» Sie konnten keinen Haftbefehl vorzeigen, da sie keinen hatten. Seddik versteckt sich hinter seiner Zimmertür. Er weiss. was auf ihn zukommen wird, denn seine Freunde und Nachbarn waren nicht verschont worden. Einer der Polizisten stellt sich vor und befiehlt ihm herauszukommen. Man nannte ihn al-Far, was die Ratte bedeutet. Er zog seine Kleider an und begab sich zu den Männern. Er sah etwas in ihren Augen. Etwas, was er bis heute nicht vergessen kann: Freude.

«Dein Gott wird dir auch nicht helfen können»

Als sie ihn aus dem Gebäude führen, erblickt er gerade noch kurz seine Frau. Er sieht, wie sie in Ohnmacht fällt. Er weiss nicht, ob er seine beiden Söhne jemals wieder sehen wird. Die Männer richten ihre Waffen auf Seddik und befehlen ihm, in das Auto zu steigen. Sie stülpen ihm einen Sack über den Kopf; Seddik erkennt den Schatten einer Pistole durch den Sack. «Wir sind keine Polizisten, sondern das Militär. Heute wirst du sterben, Seddik.» Das sagen sie immer wieder. Und als er dann zu Gott betet, schlagen sie auf ihn ein. «Dein Gott wird dir auch nicht helfen können, denn heute werden wir dich und deinen Gott töten.» Das glaubt er ihnen. Denn er weiss, was mit seinen Freunden in der Partei geschehen ist. Sie sind alle verschwunden oder auf offener Strasse ermordet worden. Er versucht sich an die Gesichter seiner Frau und seiner Söhne zu erinnern.

Um sich zu beruhigen, zählt er während der Fahrt. Nach einer Stunde und 33 Minuten halten sie an. Die Autotüren werden geöffnet, und er wird aus dem Wagen geworfen. Er versucht irgendetwas zu erkennen, doch er kann nur Umrisse sehen. Das Gebrüll und das Fluchen der Männer werden unerträglich. Es wird immer schwerer, mit einem Sack über dem Kopf zu laufen. Irgendwann wird Seddik auf einen Stuhl gesetzt, der Sack wird ihm vom Kopf genommen. Man fragt ihn aus. Ob die Gruppe Waffen verstecke, wer die Demonstrationen plane und was sie denn genau wollten. Er sagt, dass sie nichts wollten, ausser Freiheit für das Volk und bessere Lebensumstände. Die Gruppe, der Seddik angehörte, hatte keine Waffen und das sagte er ihnen auch. Sie waren eine Gruppe von Jungen: Studenten, Bäcker, Verkäufer, Arbeitslose usw. Das wird ihm jedoch nicht geglaubt. Das ist der erste von 41 Tagen. Während den ersten zehn Tagen wird er jeden Tag gefoltert. Elektroschocks und Waterboarding gehören zum Alltag. In den Pausen rauchen die Soldaten und drücken ihre Zigaretten dann auf ihm aus. Die Soldaten machen alles Mögliche mit ihm. Das algerische Militär hat die Foltermethoden, welche das französische Militär des Unabhängigkeitskrieges verwendet hatte, perfektioniert. Sie penetrieren ihn mit zerbrochenen Bierflaschen und Stöcken. Er wird tagelang wach gehalten, irgendwann fühlt es sich so an, als sei er im Himmel, da er sich so leicht fühlt. Er kann nicht mehr klar denken.

Den Zyklus der Gewalt beenden

Es folgen Monate, Jahre von Folter, Verfolgung und politischen Unruhen. Seddik wird immer wieder vom Militär entführt und gefoltert, bis ihm und seiner Familie 2003 schliesslich die Flucht in die Schweiz gelingt.

In den ersten Jahren wird Seddik psychologische Hilfe angeboten, welche er annimmt. Diese Jahre sind für Seddik unglaublich schwer, denn er leidet unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er kann abends nicht schlafen, und wenn er endlich einschläft, so wacht er kurze Zeit später, schweissgebadet, wieder auf. Er wird mehrere Male operiert, denn die Folter und Penetration hatten seinen Rücken und seinen After zerstört. Nach drei Jahren bricht er die psychologische Behandlung ab, da er es nicht mehr aushält, über seine Vergangenheit zu sprechen.

Seddik ist trotz seiner schrecklichen Vergangenheit ein liebevoller Vater, welcher die «algerischen Erziehungsmethoden» hinter sich gelassen hat. Er hat sich nämlich versprochen, den Teufelskreis zu durchbrechen. Auch wenn er immer noch an Albträumen und an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidet, so versucht er das Beste aus jedem Tag zu machen. Heute befasst sich Seddik immer noch mit der algerischen Politik. Er engagiert sich für ein freies Algerien. «Ich werde meine Vergangenheit niemals vergessen können. Doch ich habe mich entschlossen, den toxischen Zyklus der Gewalt zu beenden. Nur so können unsere Wunden heilen.» Im Herbst dieses Jahres konnte Seddik zum ersten Mal seit 16 Jahren nach Algerien reisen, da die Elite der Generäle und der Politiker aufgelöst wurde. Die algerische Revolution hat einen pazifistischen Weg eingeschlagen, welcher Seddik Hoffnung auf eine positive Entwicklung gibt.

Die ausführliche Geschichte von Seddik Daadi und drei weiteren Personen findet man hier.