Die Kogi zählen zu den faszinierendsten Völkern der Welt. Sie leben zurückgezogen in der kolumbianischen Sierra Nevada wie vor 400 Jahren. Daniel Zahnd wollte die «Hüter der Welt», wie sie sich selbst bezeichnen, besuchen. Eine Reportage über eine aussergewöhnliche Reise.

 

 

von Daniel Zahnd, Teilzeit KME, Juli 2020

Mit weichen Knien steige ich aus dem Minibus aus, irgendwo an der Landstrasse zwischen Palomino und Santa Marta, an der karibischen Küste im Norden Kolumbiens. Die Sierra Nevada de Santa Marta erhebt sich von tropischen Kokospalmen-Stränden bis zu schneebedeckten Gipfeln auf 5775 m.ü.M.

Die Gewissheit überkommt mich, dass der Kiosk, vor dem ich stehe, für eine Weile mein letzter Kontakt mit der «zivilisierten» Welt sein würde. Ich setze mich an einen Plastiktisch und trinke den schwarzen Kaffee, den mir das junge Mädchen mit dem bunten T-Shirt gebracht hat. Bunt, wie die Aussenwand des Kiosks mit dem von Hand aufgemalten Namen «La Amiguita», «Die Freundin».

Ich bin auf dem Weg zu den Kogi, einem traditionell lebenden, indigenen Volk, welches in den 80er-Jahren erstmals beschlossen hat, Gesandte in die Metropolen der Welt zu schicken, um die Sprachen und Gewohnheiten der «weissen Menschen» zu studieren, weil die Kogi befürchteten, dass diese die Welt zugrunde richteten. Als die Gesandten zurückgekommen waren, formulierten die Kogi ihre Botschaft und liessen sie von einem kanadischen Filmemacher in eine Videonachricht verpacken. Dieses Volk wollte ich kennenlernen!

Mit Koka, Tabak und Kamera

Ich habe nicht viel dabei: Zwei Pullis aus Merino-Wolle und ein weisses Shirt. Ein Anthropologe, der sich mit den Kogi beschäftigte und wie Jesus aussah, hatte mir empfohlen in Weiss zu kommen, um mich den Kogis anzupassen. Ich trug kurze Hosen und Schuhe aus Autoreifen von den Wayuu, einem Volk im Norden (was nicht die beste Wahl war, wie sich herausstellen sollte). Nicht mal eine Unterhose und Socken hatte ich auf mir, bloss ein wenig Geld (ca. 50 CHF), Kokablätter, etwas Tabak, eine Lampe, ein Tagebuch, Stifte, eine Kamera und mein Handy, obwohl es nur auf gewissen Gipfeln Empfang gab.

So laufe ich los, den Berg hoch. Ein schöner Weg: durch Weiden, steil, durch Jungle, über die breiten Strassen der Blattschneiderameisen, Dschungelgeräusche, dann ein blendend weisser, kalkiger Weg einen Bergkamm entlang. Ich frage mich, ob ich mein Vorhaben nicht viel ernster nehmen müsste. Plötzlich fühle ich mich leicht und verspielt wie ein Kind, ein Zustand, in dem ich mich schon lange nicht mehr befunden hatte, und ich weiss, dass es gut ist, so müsste ich ankommen, nicht verkrampft.

Erste Begegnung

Nach einigen Stunden plötzlich Kinderstimmen! Aufgeregtheit und Nervosität machen sich breit. Kann ich die Worte in Kogi noch, die mir der «Jesus-Anthropologe» beigebracht hat? Werden sie mich akzeptieren? Wie sind sie wohl Weissen gegenüber eingestellt? Begebe ich mich in Gefahr? Was passiert, wenn ich von einem giftigen Tier gebissen werde weit weg vom nächsten Spital? Kann ich es mit mir selbst vereinbaren, als Eindringling um Unterkunft und Essen zu bitten? Kann ich eine Gegenleistung erbringen? Kann ich ihnen helfen? Benötigen sie überhaupt Hilfe? Diese Fragen beschäftigen mich seit Tagen.

Die Kinder sind schon wieder weg, wie vom Erdboden verschwunden. Dann, plötzlich, nach einer Kurve, viele langhaarige Menschen in weissen Gewändern, viel Bewegung, das muss «El Incanto» sein, das Dorf, dessen Name mit «der Zauber» oder «das Verzauberte» übersetzt werden kann. Jetzt gibt es kein zurück mehr. Ich fasse mir ein Herz und laufe auf den ersten Menschen zu: einen jungen Mann, zwischen 20 und 30, mit langen, schwarzen Haaren, dunkler Haut, schönem Gesicht, weissem Gewand, weissem Cowboyhut und Machete. Ich spreche ihn auf Kogi an: «Hate!» (mein Vater). Er scheint nicht zu verstehen. Ob er Spanisch spreche? Ob er mich zum Mamo (Dorfoberhaupt) bringen könne?

Er führt mich an Hühnern und Schweinen vorbei zu einer runden Hütte aus Bambus, Lehm und Palmblättern. Er geht hinein und kommt mit einem älteren, leicht verrückt aussehenden Mann heraus, der aus einem Film von Tarantino stammen könnte oder von David Lynch, mit schwarzem Zahnfleisch, wohl vom Koka. Ich stammle: «Hate! Naz nuhmani kabakald hanguate. Hi ma hangua? Hanjibeng?» – was soviel heissen sollte wie: «ich gedenke, im Männerhaus zu schlafen. Was denkst du? Gut?» und ich mache dabei sowas wie eine Verbeugung. Mein Wortschatz ist schnell am Ende, zum Glück kann Sebastian, der junge Mann, mein Spanisch übersetzen. Ob ich ein paar Tage bleiben könne, ich sei gekommen, um die Kultur kennenzulernen, so in etwa. Ob ich Essen dabeihabe, will der Mamo wissen. Ich zeige meine Früchte, biete an, sie nehmen davon, viel. Ob ich noch mehr hätte? Nein. «Hmmmmm…» sagt der Mamo. Ich verstehe es als «ja», oder zumindest: «vielleicht». Das sagen sie oft hier, ich gewöhne es mir irgendwann auch an. Für «nein» gibt es übrigens kein Wort, da sagt man «hm mmmmm».

Der Junge führt mich zu einer grösseren Hütte, ich solle hier warten. Drinnen brennt ein Feuer, es riecht nach Palo Santo.

In der Männerhütte

Ich schlafe jeweils zusammen mit allen anderen Männern des Dorfs in der «Unguma», einer grösseren Lehmhütte, in einer Hängematte, dicht beieinander. In der Mitte gibt es zwei Feuerstellen, zu nahe bei ihr, quält der Rauch, zu weit weg, die nächtliche Kälte. Der geflochtene Bambus und das Holz, aus dem die Hütte besteht, ist innen glänzend schwarz vom öligen Russ des Tropenholzes. Lange, schwarze Staub- oder Spinnenfäden hängen vom Dach herunter, und über meinem Kopf klappern Schildkrötenpanzer, wenn ich mich nachts bewege.

Wir haben erst Zutritt zur Hütte, wenn die älteren Männer ihr abendliches Palavern beendet haben, was oft bis tief in die Nacht dauert, sie kauen schliesslich permanent Kokablätter. Die meisten von uns Jungen werden vorher von der Müdigkeit übermannt und legen sich irgendwo auf eine Bank, falls es noch Platz gibt, sonst auf den Boden. Oft werde ich von Insekten geweckt, die auf mir herumkrabbeln: Moskitos, Ameisen und Kakerlaken (beim nächsten Mal: lange Hosen tragen!).

Ich geniesse es, den nächtlichen Gesprächen zuzuhören; in seltsamen Tonlagen, die mich an Hexen aus einem Kinderfilm erinnern, sprechen sie miteinander. Ob sie sich Witze erzählen, Regen heraufbeschwören oder besprechen, wie sie den Untergang der Welt aufhalten können, ist schwer einzuschätzen. Manchmal sind die Gespräche von Trommeln begleitet, einmal sitzen drei Mädchen auf der Bank vor der Unguma, stundenlang, und entlocken den Schildkrötenpanzern mystische, repetitive Klänge. Die Nächte sind dunkel und lang. Exakt zwölf Stunden.

Einige Male darf ich an den nächtlichen Sitzungen teilnehmen: Ich sitze im rauchigen, dunklen Raum, kaue Koka, beantworte Fragen über die Schweiz und stelle selbst Fragen. Jemand fragt, ob es in der Schweiz Dinosaurier gebe. Allgemein sind die Kogi allerdings ziemlich gebildet.

Mit der Sonne steht man jeweils auf, ca. 5:30. Ich ernähre mich vor allem von ungesalzenen, auf dem Feuer gekochten Wurzeln, getrockneten Kochbananen und Mangos vom Baum, oft habe ich Hunger.

 

Dumburro

Aber die Kokablätter helfen. Ich lerne, wie man sie röstet, und wie man Muscheln in einem Bambus-Feuer verbrennt, um das weisse Pulver herzustellen, welches man zusammen mit den Blättern in den Mund nimmt. Dieses Pulver ist so basisch, dass man um die Stelle des Bambusfeuers nicht barfuss gehen kann und dass es einem die Lippen verbrennt, so dass sich die Haut schält, wenn man nicht aufpasst. Die Wangeninnenseiten scheinen resistenter dagegen zu sein. Man bewahrt dieses Pulver in einer getrockneten phallusförmigen Kalebasse auf; mit einem Stab holt man bei Bedarf eine Prise heraus (im Mund fühlt es sich heiss an), danach fährt man mit dem Stab über den Kalebassenhals, so dass sich da aus dem Speichel-Pulver-Gemisch mit der Zeit eine an eine Eichel erinnernde Ablagerung bildet. Dieses Ding nennt man «Dumburro», die Männer bekommen es vom Mamo, wenn sie fünfzehn werden. Ich bekomme auch eines und einen geknüpften Beutel zur Aufbewahrung der Blätter. Den Faden hierfür stellen die Dorfbewohner selber her, das Knüpfen eines Beutels dauert etwa einen Monat. Zur Begrüssung geht man zu jedem Einzelnen hin, gibt ein paar von seinen Blättern in den Beutel des andern und umgekehrt. Ständig streichen sie mit dem Stab über ihr Dumburro, sie sagen, es helfe, sich zu konzentrieren. Voy a concentrar / contemplar / reflexionar sind Sätze, die ich häufig höre, die man wohl auch ohne grosse Spanischkenntnisse versteht.

 

Einmal nehme ich an einer Sitzung der Dorfälteren teil, es geht darum, seine Gedanken im Raum frei zu äussern, mit oder ohne Worte. Dort ist ein Mamo einer weiter in den Bergen Stadt gelegenen Stadt dabei, der mit meiner Anwesenheit nicht einverstanden ist. Ich bemerke, wie der Hauptmamo meine Präsenz verteidigt, trotzdem gehe ich. Der Mamo empfiehlt mir, bei einem heiligen Stein über den Tod zu meditieren, den Ballast des Todes abzuwerfen. Danach soll ich Bananen essen und mich im Fluss waschen.

 

Kinder, Wasserschweine und ein Pfeilgiftfrosch

Die meisten mögen mich, sind interessiert, einige wollen Englisch lernen, andere sind scheu und zurückhaltend. Einige Kinder haben Angst vor mir, ein Kleinkind beginnt jeweils zu weinen, wenn es mich sieht. Andere Kinder befreunden sich mit mir, zeigen mir schöne Plätze am Fluss oder wie man am besten Mangos vom Baum holt, ein Kind will meine Taschenlampe. Als ich ihr Vertrauen gewonnen habe, darf ich nach «Kemakumake», zu einem Dorf, welches noch kein Weisser betreten hat, die Stunden Fussmarsch den Berg hinauf. An manchen Tagen gehe ich sechs Stunden durch den tropischen Dschungel, von El Incanto nach Kemakumake und zurück. Auf meinen Streifzügen begegnen mir riesige blaue Schmetterlinge (Morphofalter), eine sehr giftig aussehende knallrote Schlange, handgrosse Spinnen, die unter Wasser gehen können, und Wasserschweine. Einmal hüpft ein blauer Pfeilgiftfrosch auf dem Baumstamm, auf dem ich sitze, auf mich zu, so dass ich ihm den Weg freimachen muss. Zudem ergötze ich mich an all den wunderbaren Blumen, Strelitzien und Epiphyten.

Bei einem Baum, der knallig pinke Blüten abwirft, denke ich zuerst, dass hier Farbe ausgelaufen sei. Neben den Mangos kann ich auch Avocados und Zuckerrohr vom Boden auflesen; und zum Trinken gibt es den Fluss.

Abschied

Ich erlebe Hochs und Tiefs, fühle mich manchmal einsam, und mich im Alltagsleben einzubringen ist schwer. Doch meine Gedanken beginnen immer klarer zu werden, in gewissen Momenten kann ich viele Fragen beantworten, welche mich schon lange beschäftigt haben. Ich sehe nun klar, wie wenig man braucht, um glücklich zu sein. Viele Entscheidungen, die mir vorhin essenziell erschienen sind, sind nun nebensächlich, lediglich verschiedene Wege, die wirklich wichtigen Angelegenheiten umzusetzen, sie haben an sich kein Gewicht, tragen nicht zum Glück bei, sind willkürlich und ersetzbar.

Als ich eines Abends meinem besten Vertrauten Sebastian erzähle, dass mir die Menschen hier glücklicher scheinen als diejenigen in den Städten, entgegnet er mir, dass der Schein trüge, in Wahrheit gehe es ihnen schlecht. Ich erwarte, dass er fehlenden Komfort, Strom, Internet, oder Geld zum Reisen bemängeln würde, aber aus seinem Mund kommen ganz andere Worte. Sie berühren mich tief.

Sie seien besorgt um die Welt. Klimaerwärmung, Dürren – die Mamos prophezeihen das Schlimmste. Erdöl fördern, das sei wie der Erde ihr Blut zu rauben. Vor ein paar Jahren seien die Kristalle aus dem Fluss entfernt worden, die seien doch für den Regen verantwortlich und jetzt regne es nicht mehr. Es war weniger das, was er sagte, als vielmehr wie er es sagte, direkt und mitfühlend, mitfühlend mit der Welt.