Eine eingeschränkte Sichtweise hält schleichend Einzug in einige Bereiche unseres Alltags. Davon ist auch der ÖV nicht ausgenommen. Lesen Sie die Pendlerkolumne, sie öffnet Ihnen die Augen.

 

 

 

 

 

von Bianca Siegrist, Vollzeit-KME, Feb. 2019

Bild: Bianca Siegrist, 3.12.2018

 

Bereits am frühen Morgen teilt sich die Gesellschaft in zwei Gruppen von Menschen. Nämlich in diejenigen, die das Glück haben, eine Arbeitsstelle in Geh- oder Radentfernung zu haben, und in jene, die ein öffentliches Verkehrsmittel nutzen müssen. ÖV-Nutzung klingt nach einer eher simplen Tätigkeit, doch in Wahrheit ist sie mit einigen Schwierigkeiten verbunden – nicht nur für die Fahrgäste.

Wir befinden uns in der Stadt Bülach. Es ist Montagmorgen, ich warte wie üblich an meiner Bushaltestelle zusammen mit anderen, schon familiär gewordenen Fahrgästen. Es ist noch dunkel und kalt. Um mein Gemüt zu erwärmen, suche ich nach den Kopfhörern in meiner Tasche, die sich anfühlt, als hätte eine Elefantenmutter ihr Kleines darin abgesetzt. Die Kopfhörer sind unauffindbar, doch da erinnere ich mich, wo ich sie zu Hause hingelegt habe. Sie erscheinen vor meinem inneren Auge neben der Kaffeemaschine. – Was dies wohl über meine Prioritätensetzung aussagt?

An solchen Tagen bin ich gezwungen, mich mit meiner Umgebung zu beschäftigen und einen ganz neuen Blickwinkel einzunehmen – erstaunlich, was 45° höher im Blickwinkel alles ausmachen.

Die Lichter des Busses nähern sich langsam der wartenden Menschenschar. Es kommt eine Unruhe auf, und die eben noch schlaftrunkenen Pendler zeigen plötzlich eine unglaubliche Energie, einen Platz im Bus zu bekommen. Das Rennen ist eröffnet!

Mit einem vollgestopften Bus fährt der Fahrer los. Seine Sicht beschränkt sich nun auf einen Teilbereich der Frontscheibe. Rechts von sich blickt er nur noch in eine unendliche Weite von Mänteln und Taschen. Immer mehr «Zwänzg-ab-achti»-Gesichter zeigen sich. Nicht gerade ein Motivationsschub für den Busfahrer. Zu seinen Leiden gehören Rückenschmerzen vom langen Sitzen, wie auch der psychische Stress, ausgelöst durch die motzenden Fahrgäste. Und weiss eigentlich jemand, wohin sie gehen für die Toilettenpause?

Während zehn Minuten gibt es kein Vor und kein Zurück. Neben der unbefriedigenden Platzsituation und minimalen Bewegungsfreiheit wird mir, je länger ich mich in dieser Situation befinde, ein weiterer Faktor bewusst: die Temperatur. Die Wärme im Bus ist nicht nur durch die Körpertemperatur der Fahrgäste verursacht. Da trägt doch bestimmt die Heizung das Ihre dazu bei. Was vermutlich auf das Konto eines besorgten Busfahrers geht. Doch der Schweissgeruch, der sich immer mehr ausbreitet, ist so betäubend, dass man an den guten Absichten des altruistischen Busfahrers zu zweifeln beginnt.

Kurz vor der Ankunft am Bahnhof dann DIE DURCHSAGE, Resultat einer bürokratischen Regelung, von der die Direktionsetage überzeugt ist, sie würde die Zufriedenheit der Fahrgäste fördern; «No än schöne Tag mitenand». Die Durchsage kommt in unterschiedlichster Weise daher. Normalerweise sind die Augen der Spiegel der Seele, beim Berufsstand der Busfahrer ist es diese Durchsage.

Darauf verlassen die Fahrgäste den Bus. Der Raum um einen herum weitet sich und die Sichtweite öffnet sich. Die Fage ist nur: wie lange?