Meine Uroma: ein Leben zwischen Krieg und Liebe
Dieses Porträt erzählt die Geschichte meiner Uroma, die 1928 in Berlin zur Welt kam und 2016 in Berlin starb. Es erzählt von ihrem Leben im und nach dem Krieg. Uroma war das Familienmitglied, das Generationen verband und Geschichte fassbar machte. Das ist ein Ausschnitt ihres Lebens, das für jene Zeit nicht unüblich, aber trotzdem einzigartig war – mit Originaltönen.
«Das war das Schlimmste, was ich erlebt habe: dass ich viele Tote gesehen habe, schon als Kind.»
von Jessica Rusch, Passerelle, Mai 2023
Als ich ein Kind war, verbrachte ich jeden Sommer in der Pension meiner Grosseltern. Meine Uroma, die bereits um die 80 Jahre alt war, half in der kleinen Küche, wo der Kaffee gebrüht und die Frühstückseier gekocht wurden, mit. Sie füllte den Geschirrspüler, polierte Gläser, scherzte. Sie strahlte eine Wärme aus, die alle Gäste spürten und schätzten. Jeden Morgen beobachtete ich sie. Ab und an half ich ihr und hörte mir ihre Geschichten an, welche sie mit ihrer Berliner Schnauze erzählte. Für mich war sie mit ihrer Kochschürze und dem herzlichen Lachen, das tief aus ihrem Bauch kam, der Inbegriff einer Uroma. Bei ihr war mir immer warm. Nicht etwa, weil sie die Heizung hochdrehte, im Gegenteil: In ihrer Wohnung waren es stets kühle 19 Grad. Trotzdem fühlte ich mich heimisch und flauschig geborgen bei ihr, weil sie seit eh und je der unglaublichste Mensch war, den ich kannte und mir vorstellen konnte.
Doch wie wurde aus einer Frau, die ich für perfekt hielt (und es zugegebenermassen immer noch tue), der Mensch, der sie tatsächlich war? Denn perfekt, das muss ich zugeben, war sie objektiv gesehen wahrscheinlich nicht.
Kindheit mit Bunker und Bomben
Meine Uroma kam 1928 in Berlin auf die Welt. Seit frühster Kindheit wuchsen sie und ihre jüngeren Geschwister bei den Grosseltern auf. Ihre Eltern waren früh gestorben, erzählte Uroma, als ich sie für ein Projekt in der Sekundarschule interviewte. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, war sie zehn Jahre alt.
Jeden Abend musste sie sich, wie Millionen andere Menschen in Europa, in einem Bunker verstecken und fürchten, dass ihr Zuhause das nächste in Schutt und Asche gelegte Gebäude sei — und mit dem Zuhause man selbst und die geliebten Menschen vielleicht auch. Doch das Schlimmste, sagte sie, folgte erst am nächsten Tag, als das Ausmass der Verwüstung und die Toten sichtbar wurden. Rückblickend, meinte Uroma, seien die Angriffe in den ersten Jahren nicht so gravierend gewesen im Vergleich zu denjenigen am Ende des Krieges, als ihr zu Hause, Berlin, für mehrere Tage bombardiert wurde, als für mehrere Tage der Bunker und die Menschen darin alles waren, was sie zu sehen bekam.
Zwischen Aufbruch und Entbehrung
Die ersten Jahre nach dem Krieg waren für viele Menschen in Deutschland von Entbehrungen geprägt. Lebensmittel und andere Konsumgüter waren rationiert oder nicht verfügbar. Gleichzeitig herrschte Erleichterung über das Kriegsende. Und so kam es zu einer Anekdote die Uroma immer lachend erzählte, obwohl sie damals, als ihr die Konsequenzen ihres Handelns bewusst geworden waren, bestimmt nicht gelacht hatte: Meine Uroma war mit achtzehn Jahren die Älteste der Familie, nachdem ihre Grossmutter gestorben war. Nun war es ihre Aufgabe, sich um die Familie zu kümmern. Dafür benötigte sie allerdings eine offizielle Bestätigung, welche genehmigte, dass sie trotz ihren 18 und nicht 21 Jahren dennoch gewissermassen mündig und in der Lage war, diesen Job zu übernehmen. Ein Gespräch beim Amt genügte dafür.
Und was war wohl eine ihrer ersten «Amtshandlungen»? Naja, Uroma war ein Partymensch. Sich um die Familie zu kümmern, bedeutete nicht nur physische Fürsorge, sondern auch psychische – also Spass und Tanz. Uroma plünderte die Essensmarken ihrer verstorbenen Grossmutter, welche unglaublich sparsam mit diesen umgegangen war, und schmiss eine Party. Am nächsten Tag hatten Uroma, ihre Familie und ihre Freunde für den Moment zwar keinen Hunger mehr, aber auch keine Essensmarken, für wenn dieser eine hungerlose Moment vorbei war. Vermutlich waren die Tage und Wochen nach der Party der eigentliche Test ihrer Mündigkeit, denn nun musste sie tatsächlich erwachsen werden. Es gab keine Essensmarken mehr, auf die sie zurückgreifen konnte und keine Grosseltern, die sich um sie kümmerten.
Traumata und Neuanfänge
Mit zwanzig Jahren lernte Uroma ihren ersten Ehemann und biologischen Vater ihrer zwei Töchter kennen. Der Krieg war mittlerweile seit einigen Jahren zu Ende, aber die Folgen davon bekam sie hautnah in Form von Alkoholismus — konkret, dem Alkoholismus ihres gewalttätigen Ehemannes — zu spüren. Sie erzählte mir, dass sie den Alkoholmissbrauch erst bemerkt hatte, als die Kinder bereits auf der Welt waren. Erst als Uroma die Kinder während gewalttätiger Episoden bei einem Nachbarn verstecken und vor Schlägen schützen musste. Sie erkannte den Alkoholmissbrauch erst so spät, weil ihr Ehemann im Grunde kein schlechter Mensch war. Nein, der Mann, der seine Familie zerstörte, war im Innersten nicht böse. Sein Verhalten war eine Folge des Krieges. Damals kämpfte er als Fallschirmjäger. Vor jedem Einsatz gab man den Fallschirmjägern Alkohol im Flieger — für den Mut. So trank er sich den Mut, den er im Einsatz brauchte, auch dann noch an, als alles vorbei war.
Von Trauma spricht man, wenn ein erschütterndes und aussergewöhnliches Ereignis oder Zeitperiode, wie ein Attentat oder Krieg das Innerste eines Menschen langfristig verstört und den Charakter grundlegend verändert. Oft sprechen Traumatisierte nicht über das Erlebte, verarbeiten es somit nicht und geben das Trauma an die nächste Generation weiter. Diese müsste die unbewusst erlernten Verhaltensmuster erkennen, um sie zu durchbrechen. Gelingt dies nicht, entsteht ein Teufelskreis.
Ich persönlich behaupte, dass meine Familie oder zumindest meine Generation innerhalb der Familie nicht davon betroffen ist. Vermutlich weil Uroma offen über ihre Erlebnisse sprach, alle unsere Fragen beantwortete und nichts beschönigte. Sie erzählte vom Schmerzhaften, aber auch vom Guten, das sie diesen Erfahrungen trotz allem abgewann. Ausserdem löste sich Uroma in einer Zeit, in der dies ein Tabu war, von einem Teil des Traumas der Familie. Sie löste sich, um etwas, jemanden gesundes in ihr Leben zu lassen.
Das Erkennen eines Sinnes
Dass nicht der Krieg alleine verantwortlich für die Taten ihres ersten Ehemannes war, bewies ihr zweiter Ehemann, mein Uropa. Auch er musste im Zweiten Weltkrieg kämpfen. Trotzdem war er das Gegenteil von Uromas erstem Mann. Nicht jede potenziell traumatische Situation führt also zwangsläufig zu einem Trauma. Eine wichtige Rolle spielt die Persönlichkeit, aber auch «das kollektive und verbindende Erleben sowie die gegenseitige Unterstützung [können] dazu führen, dass Menschen diese Situationen relativ unbeschadet überstehen», erklärt Prof. Silke Bachmann, Fachärztin für Psychotherapie, in einem Beitrag des Schweizer Fernsehens. Die Psychologin Stefanie Stahl legt in ihrem Podcast dar, dass Menschen, welche in solchen Ausnahmezuständen eine Aufgabe finden, die ihnen einen Sinn gibt, traumatisierende Erlebnisse unbeschadeter überstehen als solche, die keine sinnstiftende Aufgabe finden. Vermutlich hatten meine Urgrosseltern das Glück oder den Willen, einen Sinn in ihrem Schicksal zu erkennen.
Ein Team fürs Leben
Ein Porträt meiner Uroma wäre nicht vollständig ohne meinen Uropa. Denn meine Urgrosseltern gab es nur im Doppelpack, sie waren ein echtes Team. Leider lernte ich ihn nie kennen, denn er starb 1999 mit Alzheimer-Demenz. Er liebte seine Frau bis zum Schluss – auch wenn er sie am Ende, als seine Krankheit immer mehr von ihm Besitz ergriff, mit meiner Tante verwechselte, die aussah wie meine Uroma in jungen Jahren. Aber geliebt hat er sie trotzdem, sein ganzes Leben lang, und das, obwohl sie äusserst stur sein konnte. So musste er am Anfang ihrer Beziehung Geduld beweisen. Denn er ging nicht nur einmal, sondern ganze drei Mal auf die Knie, als er um ihre Hand anhielt, bis sie endlich «Ja» sagte.
Meine Mutter beschreibt ihren Opa als witzigen, liebenswerten, gutherzigen und ruhigen Mann. Deswegen war, was er an seiner eigenen Hochzeit tat, überhaupt nicht typisch für ihn. Am «grossen Tag» meiner Urgrosseltern tauchte ihr Ex-Mann auf. Er brauchte Geld — für Alkohol. Also ging er zu Uroma, und verlangte welches, wie er es schon öfters tat. Doch dieses Mal bekam er unüblicherweise nichts. Er rechnete nicht mit Uropas Widerstand. Denn dieser zückte ein «Kniefchen», ein unscharfes Obstmesser, trat ganz nah an den ungeladenen Gast heran und bedrohte ihn.
Schliesslich konnte die Hochzeit in Ruhe gefeiert werden und «Alkoholgeld» musste nie wieder bezahlt werden. Auch diese Geschichte erzählte Uroma immer lachend, wenn sie zur Stelle mit Uropa und dem «Kniefchen» kam.
«Besser kann man das gar nicht haben»
Nun bin ich 21 Jahre alt. Uroma ist schon vor sechs Jahren von uns gegangen. Und vielleicht ist sie wieder mit Uropa und ihrer bereits vor ihr verstorbenen Tochter vereint, trinkt im Himmel oder im Nirvana oder in einem anderen Jenseits einen «Klopfer» auf alle, die ihr noch folgen werden. Allenfalls tanzt sie auch in Kinderschuhen auf einer Kindergeburtstagsparty oder fliegt als Energie im Universum umher. Ich hingegen erfreue mich am warmen Gefühl, das mich umfängt, wenn ich an sie denke — an die dickköpfige, aber stets zufriedene und dankbare Frau voller Leben, Ehrlichkeit und Witz. Uroma war eventuell nicht perfekt. Aber, und das weiss ich mit Sicherheit, sie hat aus allem, was ihr gegeben und nicht gegeben wurde, das Beste gemacht. Uroma erfuhr Tod und Trauer, schon als Kind. Sie erfuhr Gewalt und Angst. Und trotzdem oder vielleicht gerade deswegen war Jammern ein Fremdwort für sie. «Besser kann man das gar nicht haben», sagte sie mir am Ende des Interviews vor acht Jahren. Damit meinte sie ihr Leben und die Familie, mit der sie dieses teilen durfte.
Das und so viel mehr ist Helga Zurawski, geborene von Falkenberg.